Viel Himmel und viel Grün – Eine Radtour durch Schottland
von Martin Baer und Alexandra Scheele
Viel Himmel und viel Grün – Eine Radtour durch Schottland
Martin Baer und Alexandra Scheele
Drei Dinge versuchen wir Freizeit-Fahrrad-Wanderer gewöhnlich zu vermeiden: Steigungen. Wind. Regen. Es gibt eine Ecke Europas, wo man all das fast sicher und zu jeder Jahreszeit finden wird: Schottland. Und trotzdem haben wir uns in den Kopf gesetzt, unsere Sommerradreise genau dort zu machen. Wir wollen durch die Highlands fahren und die schon ziemlich weit im Nordatlantik gelegene Inselgruppe der Äußeren Hebriden erkunden.
Beim Packen ein Blick in die Klimatabelle: 250 bis 270 Regentage im Jahr, Sommerhöchsttemperaturen von 20 Grad. Ob wir doch Handschuhe mitnehmen sollen, wie eine Freundin vorschlägt? Wir packen also Fleece-Pullover, Regenhose und -jacke ein, entscheiden uns aber auch für Badesachen und Flip-Flops – schließlich ist es unser Sommerurlaub!
Unsere Reise beginnt in Edinburgh, eine Stadt über die Robert L. Stevenson einmal schrieb: „Edinburgh is what Paris ought to be“. Eine prächtige Stadt mit einem monumentalen Schloss. Im August lockt eine Reihe von Großveranstaltungen – wie das große internationale Theater-, Comedy- und Musikfestival „The Fringe“, das Bücherfestival, das Filmfestival oder das Militärmusikfestival „Tattoo“ – hunderttausende Besucher aus aller Welt nach Edinburgh. Uns aber zieht es in die menschenleeren Highlands.
Der freundliche Wirt unseres ersten Bed & Breakfast, Ian, begutachtet die vollbepackten Räder und wünscht uns, dass der Wind nachlässt, denn selbst hier in der Stadt pfeift selbiger schon ganz ordentlich. Ob es eine schottische Variante dessen gäbe, was unsere Großmütter beim Abendessen zu sagen pflegten: „Iss auf, dann wird es morgen schön“? „Oh ja“, sagt Ian, „wenn es regnet, dann steuert man den nächsten Pub an und bestellt einen Whisky. Und wenn es dann nicht aufhört – bestellt man noch eine Runde!“ Wir beschließen, das zu unserem Leitmotiv zu machen und uns weder zu hetzen, noch von Wind und Regen die gute Laune verderben zu lassen.
Direkt in der Stadt beginnt der 1822 fertiggestellte Union Kanal. Einst eine wichtige Wasserstraße, hatte er mit der Ausbreitung des Schienennetzes seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verloren und wurde in den 1960er Jahren stillgelegt. Erst im Zuge der britischen „Milleniumprojekte“ wurden der Union Kanal und der von Glasgow nach Osten führende Forth and Clyde Kanal aufwändig saniert. Herzstück dieser Sanierung ist das Falkirk Wheel, ein futuristisch anmutender und weltweit einzigartiger rotierender Aufzug, der die vorherigen Schleusenverbindungen zwischen den beiden Kanälen ersetzt und nun die Schiffe und Boote scheinbar schwerelos die 35 Meter Höhenunterschied überwinden lässt. Wir haben uns dieses technische Wunderwerk als erstes Ziel ausgesucht und genießen die erste steigungs- und autolose Etappe auf dem Treidelpfad entlang des Kanals, vorbei an bunten Hausbooten, über Aquädukte und schließlich sogar durch einen fast einen kilometerlangen Tunnel. Dass die Kanalbauer vor 200 Jahren den Wasserlauf unter die Erde verlegten, ist auf den Einspruch eines mächtigen Landbesitzers zurückzuführen, der den Anblick dieses neumodischen Bauwerks für nicht zumutbar hielt.
Am nächsten Tag geht es nach Stirling, das wie Edinburgh ein sehr gut erhaltenes Schloss und eine schmucke Altstadt aufzuweisen hat, und weiter über Feldwege und Nebenstraßen Richtung Callender. Nach 30 Kilometern und einigen Steigungen sind wir am Ziel angekommen und mitten in den Highland Games – einem traditionellen Treffen der schottischen Clans, bei denen verschiedene Wettbewerbe ausgetragen werden. Neben den typischen Jahrmarktattraktionen wird dort gerade der internationale Baumstammweitwurfwettbewerb ausgetragen. Wir beobachten dieses kuriose Schauspiel: Der Schiedsrichter sitzt auf einem Regiestuhl in der Mitte der Wiese, mehrere Männer bringen dem Sportler seinen etwa fünf Meter langen und 40 kg schweren Stamm. Diesen Baum gilt es so zu werfen, dass er in der Luft eine 180 Grad Drehung vollzieht und in möglichst gerader Linie auf dem Boden auftrifft. Wir können nur anhand der Reaktionen des Publikums erahnen, ob der Wurf ein Erfolg war oder nicht und ziehen weiter, als die Hundestaffel der Polizei vorgeführt wird und eine vielköpfige Dudelsack-Musikgruppe den Rasen betritt.
Von Callender aus folgen wir am nächsten Tag zunächst dem weitestgehend autofreien Radweg Nr. 7 – einer der zahlreichen Routen des National Cycle Networks. Auf der Steigung zwischen Loch Achray und Loch Katrine macht es plötzlich „knack“: Kette gerissen. Wir haben zwar das übliche Pannenwerkzeug mit, aber keinen Kettennieter. In dieser Gegend, in der man stundenlang kein Haus, keine Ortschaft geschweige denn einen Fahrradladen sieht, kann das ärgerlich sein. Wir haben Glück: Nach einer Meile schieben erreichen wir die Dampferanlegestelle am Loch Katrine. Dort gibt es einen Fahrradverleih, wo uns der hilfsbereiten Stanley das nötige Werkzeug leiht. Nur den altertümlichen Dampfer, mit dem wir den See überqueren wollten, haben wir nun verpasst.
Fast 20 Kilometer folgt der asphaltierte Weg dem Seeufer. Es gibt zwar einige Steigungen, doch die spektakulären Ausblicke über das Loch lohnen die Mühe. In dieser Einsamkeit sollte man außer Flickzeug auch etwas zu Essen dabeihaben, denn erst am Westende des Lochs gibt es ein kleines Café, wo wir uns mit „Cream Tea“ – heißem Tee, gebackenen Scones mit geschlagener Sahne und Erdbeermarmelade – verwöhnen lassen. Wir finden Quartier in einer alten, zum Hostel umgebauten Kirche. Hier gibt es nur noch uns, eine Flasche Lager und etwa eine Million midges, kleine und sehr stechfreudige Mücken.
Die Straße endet am Ostufer des großen Loch Lomond beim Inversnaid Hotel. Da der bei Wanderern beliebte West Highland Way selbst für Mountain Bikes praktisch unpassierbar ist, sind wie auf die kleine Fähre des Hotels angewiesen, um ans andere Ufer zu kommen. Der Kapitän weist uns auf die schöne Aussicht hin und tatsächlich haben wir einen guten Blick auf den 974 Meter hohen Ben Lomond, einen der 545 schottischen Munros. Das sind Berge, die mehr als 914 Meter (3000 feet) hoch sind und für viele Schottlandreisende den Hauptanziehungspunkt ihrer Reise darstellen.
Die Fahrt nach Oban, einem quirligen Fährort im Westen ist wunderschön. Von Oban geht es mit der Fähre auf die Äußeren Hebriden, einer Inselkette im Atlantik, vom schottischen Festland doppelt so weit entfernt wie England von Frankreich. Entsprechend lang dauert die Fährfahrt auf die südlichste Insel des Archipels, Barra, nämlich fast fünf Stunden. Zunächst begleitet uns eine Segelregatta, dann schweben über uns nur noch Möwen. Freundliche Mitreisende machen auf die prachtvollen Schlösser Torosay und Duart auf der Insel Mull aufmerksam, und auf der anderen Seite der Meerenge sehen wir am Ufer des Festlandes gewaltige Wasserfälle. In diesen Gewässern kann man gelegentlich Tümmler, Delphine, Wale und Haie beobachten, woraufhin wir die ganze Überfahrt abwechselnd „Wache“ schieben, damit wir dieses Schauspiel nicht verpassen. Leider haben wir kein Glück. Wer mehr oder weniger sicher gehen will, beim „Whale Watching“ Erfolg zu haben, sollte eine der in den größeren Orten an der Küste angebotenen Bootstouren einplanen. Inzwischen gibt es sogar Ausflüge mit Glasbodenschiffen, und da die für den menschlichen Badeurlauber zwar eher kühlen, für maritime Lebensformen aber gemäßigt warmen Gewässer äußerst nährstoffreich sind, sind sie sehr fisch- und artenreich.
Wenn die Autofähre „Clansman“ den Anleger der Insel Barra erreicht und Einheimische, Lieferanten und Touristen das Schiff verlassen haben, kann es wohl sein, dass sich die Zahl der Menschen in Castelbay auf einen Schlag verdoppelt. Die Insel Barra hat insgesamt nur 1200 Einwohner. In Castelbay gibt es aber neben einer Reihe von B&Bs zwei Hotels. Deswegen sind wir ganz optimistisch, gleich ein Zimmer zu bekommen. Doch an diesem Augusttag sind alle Betten schon belegt. Zum Glück öffnet der freundliche Mann von der Touristeninformation sein eigentlich seit 19 Uhr geschlossenes Büro noch einmal und vermittelt uns ein fünf Meilen entferntes Zimmer. Sehr nützlich ist auch sein Tipp, gleich am Hafen beim Inder einzukehren. Das Cafe Kisimul ist nämlich das einzige Restaurant außerhalb der Hotels und im Sommer entsprechend gut frequentiert. „Alles reserviert bis nächste Woche Montag“, heißt es erst, aber dann finden sich doch noch zwei Plätze, und wir bekommen auf den Hebriden gebrautes Bier und eine schottische Variante indischer Gerichte: ein Curry mit dem „Fang des Tages“.
Der indische Klang des Namens „Kisimul“ ist gälisch und verweist auf das kleine Schloss auf einem Felsen in der Hafenbucht, das der Stadt auch ihren Namen gab. Das alte Gemäuer, als Sitz des Clans der MacNeil im 11. Jahrhundert errichtet, wurde 1937 vom amerikanischen Architekten und 45. Clanoberhaupt Robert MacNeil gekauft und wieder hergerichtet. Im Jahr 2000 übergab es sein Sohn für eine Jahresmiete von einem Pfund und einer Flasche Whisky an die Denkmalbehörde Historic Scotland. So ist das Schloss heute für Besichtigungen geöffnet – wenn man rechtzeitig da ist, um dem Fährmann mit einer Tafel zu signalisieren, dass er einen überholen soll.
Ansonsten besteht Barra vor allem aus sanften Hügeln, viel Grün und bunten Blumenwiesen. Wenn die Sonne scheint, erinnern die kilometerlangen Sandstrände und das türkisfarbene Wasser an Werbefotos für tropische Inseln. Wellenreiter und Windsurfer lassen sich von diesen Stränden und der sehr verlässlichen Brandung des Atlantik locken und halten sogar internationale Wettkämpfe ab. Die Wassertemperaturen sind für unseren Geschmack tatsächlich bestenfalls mit Neoprenanzug erträglich. So beschränken wir uns auf Sonnenbad und Strandspaziergang. Der führt uns über die Felsen zu einer Kolonie von Seehunden. An der Küste und den zahlreichen Lochs und Süßwasserseen auf den Inseln kann man Otter, Wildgänse, Seeadler und viele andere Vogelarten zu Gesicht bekommen.
Von Barra bringt uns eine Fähre nach Eriskay, von wo aus sich die Insel Uist über eine etwa fünfzig Kilometere lange und meist einspurige Straße erschließen lässt. Die wenigen Auto- und Fahrradfahrer grüßen sich freundlich und warten auch schon mal geduldig in einem der Ausweichplätze. Stundenlang sieht man kaum ein Haus, keinen Menschen, nur Schafe, aber immer wieder Ruinen von Steinhäusern, Fundamente, Feldsteinmauern, Überreste von einzelnen Gehöften und ganzen Siedlungen. Die Ruinen erinnern daran, dass die Highlands nicht immer so menschenleer waren. Ein Besuch in einem der kleinen Museen auf den Inseln, etwa dem Kildonan Museum auf Süd-Uist, gibt Einblicke in die Geschichte der „Highland Clearances“. Die militärische Niederlage der schottischen „Jacobites“ gegen die Engländer führte zum Verbot der Privatarmeen. Aus den Feudalherren wurden Großgrundbesitzer, und da diese keine Soldaten und damit auch keine Untertanen mehr brauchten, vertrieben sie die Menschen und brachten Schafe ins Land. Die „Clearances“, im schottischen Gälisch „Fuadaich nan Gàidheal“ (Vertreibung der Gälischen), genannt, entvölkerten so die Highlands und führten zum Niedergang der gälischen Sprache und Kultur. Erst in letzter Zeit nimmt die Bedeutung der Sprache wieder zu. Es gibt Schulunterricht, Zeitungen, Radio- und Fernsehprogramme auf gälisch, und die zweisprachigen Ortsschilder haben keineswegs nur symbolisch-nostalgische Bedeutung, denn mancherorts ist die Umgangssprache wirklich gälisch.
Radwanderern sei dringend geraten, die Äußeren Hebriden von Süden nach Norden zu befahren, da sie so der Hauptwindrichtung folgen. Unseren zweiten Tag auf Uist mit orkanartigem Wind und Dauerregen mussten wir nach zehn Meilen zwar vollkommen durchnässt in einem Pub beenden – in der Gegenrichtung unterwegs hätten wir unter diesen Umständen jedoch kaum einen Kilometer geschafft.
Wir entscheiden uns am nächsten Tag, nicht nach Lewis, der nördlichsten und größten Insel der Äußeren Hebriden zu fahren, sondern setzen von Lochmaddy auf die Inneren Hebriden über. Die Isle of Skye ist die größte und bei Touristen beliebteste Insel vor der schottischen Westküste. Im Sommer sind die Quartiere im malerischen Hafenstädtchen Portree und in Uig, von wo aus die Fähren auf die Äußeren Hebriden abgehen, häufig ausgebucht. Die Überlandstrasse von Portree nach Broadford ist zwar zweispurig ausgebaut, aber die zahlreichen Wohnmobile und LKWs machen uns Radfahrern das Leben schwer, so dass wir versuchen, alternative Routen zu finden. Zum Glück meiden die meisten Autofahrer die wenigen alten einspurigen Landstraßen, selbst wenn sie auf Schildern als „landschaftlich reizvolle Ausweichstrecke“ angepriesen werden. Wir fahren nach Armadale, um von dort die Fähre zurück aufs Festland, nach Mallaig, zu nehmen.
In Mallaig enden auch die Fernstrasse und die Bahnstrecke von Fort William, und so ist es kein Wunder, dass auch hier alle Quartiere belegt sind. Da wir mit dem Fahrrad in solchen Fällen nicht einfach in den nächsten Ort fahren können, haben wir ein Zelt mit. In Schottland darf man grundsätzlich überall zelten. Also erkundigen wir uns im Pub nach einer geeigneten Wiese, und ein paar freundliche Zecher erklären uns den Weg zu einem kleinen Plateau, von wo aus wir eine fantastische Aussicht über das Städtchen, den Hafen und die Meerenge bis hinüber nach Skye haben. Es ist unser letzter Abend als Radreisende, denn am nächsten Tag fahren wir mit dem Zug die einspurige und – wie es heißt – weltweit (SEHR SUPERLATIV, ODER???) reizvollste Bahnstrecke nach Glasgow und Edinburgh, die uns über das beindruckende Glenfinnan Viadukt führt. Auf halber Strecke treffen wir im Bahnhof auf die im Sommer einmal täglich zwischen Fort William und Mallaig verkehrende Dampflokomotiven-Bahn, die nicht nur auf erklärte Bahnliebhaber ihren Reiz ausübt. Die Fahrradmitnahme in Zügen ist in Schottland kostenlos, da jedoch die Plätze begrenzt sind, wird eine Reservierung empfohlen.
Beim letzten Whisky in Glasgow schauen wir auf den wolkenlosen Himmel und überlegen dann, die nächste Fahrradreise am Loch Ness entlang nach Inverness und auf die Shetland Inseln zu machen. Es gibt noch viel zu entdecken.
Veröffentlicht am 22. 3. 2008 in der TAZ